Wenn eins zum andern wird

Myriam Thyes' Projekt 'Flaggen Metamorphosen'

Regio Artline, www.regioartline.org, www.clickhere.ch, Mai 2006. Von Verena Kuni

"Eine abstrakte Anordnung von Farben, Flächen und Zeichen in meist rechteckiger Form." Was hier wohl beschrieben wird? Malerei, könnte man meinen. Dabei beginnt so der Artikel im Online-Nachschlagewerk Wikipedia zum Stichwort "Flagge". Aber natürlich ist die Assoziation als solche nicht aus der Luft gegriffen – wo sonst neben Stoffbahnen in Nationalfarben, mit Stadtwappen, Firmensigneten und schnöder Werbung hin und wieder sogar von Künstlerhand gestaltete Fahnen flattern. Schliesslich sind Flaggen Bildzeichen, die über ihre generelle Signalwirkung hinaus weitere kulturelle Botschaften zu transportieren vermögen, und folglich bestens geeignet für Kunst im öffentlichen Raum. Auf ihre Weise belegen das auch Myriam Thyes' «Flaggen-Metamorphosen» – ein Projekt, das sich nicht damit begnügt, in Fahnenform weithin sichtbare Zeichen für die Kunst zu setzen. Hier bildet tatsächlich die bunte Vielfalt der über 190 bekannten Landesflaggen den Ausgangspunkt für eine ästhetische und thematische Auseinandersetzung mit dem Sujet, bei der es zudem um eine spezifische Art der (An-)Verwandlung geht. Myriam Thyes fordert nämlich dazu auf, für ihre Plattform im Web die Nationalfahnen verschiedener Länder mittels Flash-Programmierung "zum Tanzen zu bringen".

Der Titel "Flaggen-Metamorphosen" ist Programm: Schon in den klassischen Metamorphose-Mythen, wie sie prominent Ovids gleichnamige Dichtung überliefert, ist der Wandel der Gestalten nie auf das Äussere beschränkt, sondern korrespondiert mit ihren Wesenszügen. Das zeichnet auch die «Flaggen-Metamorphosen» aus. Zwar werden die
nationalen Symbolträger mit Hilfe digitaler Animation in Bewegung gebracht, was zunächst den Gedanken nahe legt, man habe es lediglich mit einem «Morphing», einer Formveränderung zu tun. Dabei soll der Weg der Wandlung aber auch sinnstiftende Brücken zwischen den beiden Ländern schlagen, für die sie stehen. Das wiederum klingt nach naiver Harmonielehre, für die selbst die diplomatischen Beziehungen im neuen Europa kaum als hinreichendes Unterpfand taugen. Aber für eine reine Feier von Friede, Freude und Eierkuchen will die Künstlerin die Fahnen nicht im World Wide Web wehen sehen. «Alle staatlichen Flaggen tragen in ihren Designs, Zeichen und Figurationen Bedeutungen. Diese stehen zwar zur realen Geschichte des Landes in Beziehung, drücken aber oft eher Wünsche und Behauptungen aus – wie Stärke, Unabhängigkeit, Schönheit, Größe eines Landes und seiner Leistungen. Dies erschwert den Umgang mit den Symbolen, hebt die Überlegungen aber auch auf eine abstraktere, philosophische und kulturhistorische Ebene», heisst es in ihrem Projektkonzept. Und weiter: "Die in Flaggen 'versteckten' Mythen können in der Recherche offengelegt und für die Animation fruchtbar gemacht werden – z. B. als Dekonstruktion und Umwertung. Nebst der Betrachtung jedes einzelnen Landes und seiner Flagge sind auch die wichtigsten Beziehungen jedes Landes zu andern Ländern zu recherchieren: Nachbarländer, Kolonial-Beziehungen, kulturelle Einflüsse usw." Dass dabei auch so manche "Beziehungsgeschichte", über die mittlerweile diplomatischer Zierrasen gepflanzt worden ist, wieder ausgegraben und in den Metamorphosen zum Vorschein gebracht werden könnte, liegt also mindestens im Potenzial des Projekts. Wie derlei im Einzelnen Gestalt zu verleihen wäre, bleibt der Phantasie derer überlassen, die sich an Thyes' Projekt beteiligen: Auf ihrer Internet-Seite hat sie nämlich nicht nur eine Präsentationsfläche eingerichtet, auf der die bereits entstandenen «Flaggen-Metamorphosen»
flattern, sondern fordert auch andere Netznutzerinnen und Netznutzerinnen dazu auf, eigene Beiträge einzureichen. Die ersten Ergebnisse ihres Aufrufs, auf kreative Weise "Flagge zu zeigen", lassen sich hier bewundern. Unter den internationalen Einreichungen schwelgen zwar manche Verwandlungsgeschichten in leuchtenden Farben, sind jedoch mit fröhlichem Fähnchenschwenken schwerlich zu verwechseln. Peter Chanthanakone etwa verweist mit der Metamorphose der Flagge von Laos in diejenige von Kanada auf den Migrationshintergrund seiner Familie, die vor dem kommunistischen Regime auf den Nordamerikanischen Kontinent flüchtete.

Sicher: Dass die vertonten Flash-Animationen auf der ästhetischen Ebene besonders subtil ausfallen würden, lässt sich kaum behaupten. Aber das hat wohl weniger mit den Metamorphosen, als mit dem Ausgangsmaterial zu tun: Als Bildzeichen mit Signalwirkung wollen Flaggen auf den ersten Blick erfasst werden – Botschaften zwischen den Zeilen wären da fehl am Platz. Just in dem Moment jedoch, da die zum Appell angetretenen Fahnen in Bewegung geraten und die fest gefügten Formen zu flattern beginnen, dürfen auch die Zeichen für kurze Zeit aus der Reihe tanzen. Nur für Momente, dann stehen sie wieder in Reih und Glied – allein während ihrer Verwandlung ist Raum für die Geschichten, die der Wind erzählt.

 

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